Kulturwissenschaftliche Großstadtforschung

Kulturwissenschaftliche Großstadtforschung

Organisatoren
Patrick Eser / Angela Schrott, Institut für Romanistik, Universität Kassel
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.04.2016 - 30.04.2016
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Von
Patrick Eser, Institut für Romanistik; Wiebke Reinert, Institut für Neuere und Neuste Geschichte, Universität Kassel

Die Stadt ist aufgrund ihrer Mannigfaltigkeit und ihrer kulturellen wie sozioökonomischen Bedeutung von jeher ein beliebtes Forschungsfeld verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen. Der Tenor einer Verstädterung der Welt, eine globalisierungsbedingt verstärkte Sensibilisierung für Raumfragen und die Bedeutung lokaler Umgebungen gaben für die Stadtforschung in jüngster Vergangenheit neue Impulse.1 Die Thematisierung umfasst dabei sowohl historisch ausgerichtete Untersuchungen als auch Perspektiven auf die Stadtentwicklung der Gegenwart und damit verbundene Auseinandersetzungen; die Stadt wird sowohl als soziales und kulturelles Gefüge konzipiert. Im deutschsprachigen Raum hat zuletzt die These von der „Eigenlogik der Städte“,2 die kulturelle Differenzen und die Eigengesetzlichkeit von Städten betont, aus gesellschaftstheoretischer Perspektive vehemente Kritiken provoziert, die der These der „Eigenlogik“ die innere Heterogenität der Stadt als antagonistische Form der Vergesellschaftung entgegenhält.3 Jenseits dieser Debatte ist ein Interesse an kulturwissenschaftlichen Methoden der Stadtforschung und an einer entsprechenden Remodellierung des Untersuchungsgegenstands festzustellen. Für eine „kulturanalytische Stadtforschung“ haben sich die Begriffe Textur, imaginaire und Habitus als zentrale Konzepte erwiesen,4 in der Linguistik wird das Konzept der linguistic landscapes diskutiert und in der lateinamerikanischen Debatte5 hat sich unter anderem die Konzeption des imaginario urbano (das zugleich die Wahrnehmung, Vorstellung wie Modellierung von Stadt thematisiert und diese in ihrer Phänomenologie, ihren symbolischen Formen wie auch in ihrer Zeichenhaftigkeit und Bildlichkeit zum Gegenstand macht) einer belebten Rezeption erfreut. Da sich die Aufmerksamkeit der Stadtforschung auf die Phänomene Bild, Wahrnehmung, Repräsentation und Image verlagert hat, werden interdisziplinäre Ansätze in der Untersuchung der Kultur des Urbanen nötig, die sich dem kulturanalytisch erweiterten Gegenstandsbereich sowie der Formensprache der Urbanität, wie sie in Film, Fotografie, Literatur und Architektur zum Ausdruck kommt, aus verschiedenen Perspektiven annähern.

Um eine vergleichende Diskussion kulturwissenschaftlicher Ansätze in gegenwärtigen Forschungsarbeiten zu ermöglichen, hatten die Veranstalter/innen Vortragende aus einem breiten disziplinären Spektrum eingeladen. Neben den Fachgebieten der Veranstalter/innen, der romanistische Literatur- (Patrick Eser) und Sprachwissenschaft (Angela Schrott), waren Forschende aus den Teildisziplinen der germanistischen Film- und Medienwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, Architekturgeschichte, Ethnologie / Anthropologie sowie der Sozialgeographie vertreten. Der gemeinsame Fokus richtete sich zum einen auf Spezifika der jeweils disziplinären Methoden, zum anderen auf Narrative, Repräsentationen und „Figurationen“ der Großstadt in verschiedenen Medien und in Bezug auf Praktiken großstädtischen Lebens.

KARSTEN GÄBLER (Jena) machte sich in seinem aus umfangreicher Forschung und theoretischer Reflexion gespeisten Vorschlag zur Erforschung von Stadt und Urbanität für einen weiten Praxisbegriff stark und nahm das Konzept des „alltäglichen Geographie-Machens“ aus der sozialgeographischen Schule von Anthony Giddens und Benno Werlen als Klammer. Als zentrale Aspekte eines solchen Verständnisses von Stadt diskutierte er, ausgehend von den „raumbezogenen Praktiken“, die Stadt als gebauten Raum und Habitat, als ökonomischen Raum, in dem der Warentausch und die Konsumwelt stattfindet, als Ort, in dem Praktiken der Freizeit und der Muße ihren Ort haben, als öffentlichen politischen Ort, in dem ein Wechselspiel von Privatem und Öffentlichem verhandelt wird, und schließlich als Ort der symbolischen Aneignung, in dem Städte als Arenen des Erzählen und Erinnerns fungieren.

Der Beitrag von PETER SEIBERT (Kassel) drehte sich um die Stadtkinematographie von Wim Wenders, dessen Filmwerk stark von der Reflexion auf urbane Lebensformen beeinflusst ist. Anhand „Lisbon Story“ veranschaulichte Seibert, wie Wenders Filme eine Kritik an lebloser Stadtmoderne entwickeln und zugleich auch Orte evozieren, an denen nichtentfremdetes Leben und soziale Interaktionen stattfinden können. Über solche „places“ hat Wenders auch theoretisch reflektiert, so in seinem Aufsatz „In Defence of Places“ (2003), in dem er die Bedeutung des Ortes herausstellt – auch im Hinblick auf erzählerisch-künstlerische Absichten. Der Film wird bei Wenders als bedeutendes Medium der sinnlichen Erfahrung von Stadt behauptet, wobei zugleich auch die Grenzen dieses Anspruchs thematisiert werden.

ANNE HUFSCHMID (Berlin) berichtete aus ihren mehrjährigen Forschungsarbeiten in Lateinamerika zu einer „Lesbarkeit der Stadt“. Die historische Dimension, die Karsten Gäbler bereits auf das Tableau gebracht hatte, wurde von Huffschmid anhand von Erinnerungspraktiken im Stadtraum, vor allem am Beispiel des umstrittenen Erinnerungsraums Mexiko-Stadt, wieder aufgenommen. Im Machen von Bildern und der sich dadurch entfaltenden Erzählung, aber auch in künstlerischen Praktiken sah sie eine visuelle Narration und plädierte dafür, auch Räume und verortbare Praktiken „lesbar“ zu machen.

Für den Beitrag von MARTINA SCHRADER-KNIFFKI (Mainz) war die historische Dimension in der Entschlüsselung und Lesbarkeit des urbanen Raums und der ihn konstituierenden sprachlichen Komplexität ebenso von Bedeutung. Sie erörterte die linguistic landscapes mexikanischer Kolonialstädte, in denen regionalspezifische Merkmale und Traditionen auf globale Tendenzen treffen. Am Beispiel von Oaxaca und San Cristobal de las Casas thematisierte sie die Varianz von Schriftbildern im öffentlichen Raum und schloss auch den Aspekt der verkaufsfördernden Inwertsetzung inszenierter Tradition oder „Identitäten“ ein.

Bei ALF MONJOUR (Duisburg-Essen) stand großstädtische Diversifizierung auf soziolinguistischer Ebene im Mittelpunkt. In historisierender Perspektive hob er dabei auf demographische Umwälzungen im Spanien der 1970er- und 1980er-Jahre ab, die zu einer neuen sozialen und in Folge auch sprachlichen Durchmischung führten. Im Spannungsfeld von Orientierungsmustern der Stadt als Ort von Jugendlichkeit, Modernität und Progressivität entwickelten sich neue Formen fingierter Oralität, die durch Mischungen traditioneller und moderner Register sowie durch die Differenz zwischen suburbanem Soziolekt und der im Stadtzentrum verorteten Hochsprache charakterisiert sind.

Das Narrativ von Hochkultur, das immer auch ein Narrativ von seinem Gegenteil beinhaltet, spielte auch im Beitrag von WIEBKE REINERT (Kassel) eine tragende Rolle. Sie machte die Verbindung von sprachlichen und räumlichen Akten der Ausgrenzung durch „Vertierlichung“ in historischer Perspektive deutlich. In der Stadt, die historisch gesehen stets auch ein Migrationsphänomen ist, wurde die „Ankunft der Anderen“ sowohl räumlich als auch diskursiv geordnet – in Mietskasernen und Werksiedlungen ebenso wie in der Verwendung rhetorischer Strategien der Vertierlichung. Als triebhaft, gewalttätig und wild wurden die „unvernünftigen Tiere“ (F. Engels) der Stadtgesellschaft, die zugewanderten Arbeiter, dargestellt und somit zum anderen der gebildeten, bürgerlichen und wohlhabenden Klassen, aber auch zum anderen der Zivilisation und Aufklärung per se. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die gegenwärtigen Migrationsphänomene und Fragen nach menschlichen Rechten umso machtsensibler betrachtet werden müssen.

Ein zeitgenössisches Beispiel für die Bemühung um Kontrolle städtischen Raums stellte ELETTRA GRIESI (Kassel) am Beispiel der kubanischen Wohnraumplanung dar. Dieser befindet sich zwischen reklamierten sozialen Rechten und den disziplinierenden Wirkungen des „re-ordering space“. Am Beispiel der Implementation von Plattenbauten in Pina del Río veranschaulichte sie den Widerstreit von ideologisch produzierten Räumen und tatsächlicher Nutzung des Raums auf der Mikro-Ebene. Deutlich wurde, dass social engineering nicht ohne seine Grenzen und die Widerstände, die in diesem Spannungsfeld entstehen, betrachtet werden kann.

Auch im Beitrag von JAN-HENRIK WITTHAUS (Kassel) ging es um Grenzziehungsprozesse und städtische Räume der Nicht-Begegnung. In seiner Diskussion des Films „Amores perros“ von Alejándro González Iñárritu plädierte er dafür, diesen unter dem Aspekt der sozialen (Im-)Mobilität und seiner Darstellung im Film zu interpretieren. Sei der Films bisher als Inszenierung eines Bankrotts der Revolutionen, der verlorenen Illusionen Lateinamerikas und des Siegs universalen Geldstrebens interpretiert worden, würde ein für soziale Milieus und Metaphern, in denen diese dargestellt werden, geschärfter Blick die Rolle des Geldes auf andere Weise prominent setzen: als fataler ‚sozialer Leim‘ bringe es nämlich die unterschiedlichen urbanen Milieus miteinander in Verbindung, ebenso wie sozioökonomisch Ausschlüsse aus der Stadtgesellschaft produziert werden.

Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive leuchtete FELIX TACKE (Bonn) Praktiken der verbalen Markierung des Raums aus und zog als erklärende Modelle ethologische Konzeptionen von Raum und Verhalten heran (zum Beispiel Eibl-Eibesfeldt). Am Beispiel urbaner Konflikte um Mehrsprachigkeit führte Tacke sprachliche Konflikte, fußend auf einer vielschichtigen Definition von Territorialität, mit der Idee eines Revierverhaltens eng. Anschließend wurde aus anthropologischer Perspektive die kontroverse Frage aufgeworfen, ob Konzepte wie „sprachliche Territorialität“, „Verwurzelung“, „anthropologische Konstitution“ und „raumgebundene Intoleranz“ überhaupt erklärende Anwendung in der Untersuchung von urbanen Konflikten um Mehrsprachigkeit finden können.

Um Praktiken des place making ging es auch in den Beiträgen von ROLF KAILUWEIT (Freiburg), ALFONSO MEOLI (Kassel) und JANA PIPER (Dortmund). Kailuweit stellte am Beispiel seines Materials von Korsika (Ajaccio, Bastia und Corte), aus Toulouse und Perpignan heraus, wie sich Vielfalt und Variation von Sprache im städtischen Raum auf Schildern und in Inschriften manifestieren, die über bloße Informationsfunktionen hinausgehen. Sie würden, so die zentrale These, auch einen Beitrag dazu leisten, dass sich Bewohner/innen mit Wohnorten identifizieren – eine Praktik „urbanen Geographie-Machens“. Kailuweit führte auch aus, dass sich der Forschungsansatz Lingustic Landscapes von quantitativen Ansätzen zu einer stärker qualitativen Ausrichtung entwickelt habe, bei der auch nach der Rolle der Sprach- und Kulturkompetenzen der Rezipienten, den normativen Erwartungen und sozialen Handlungen, die durch Schilder im öffentlichen Raum ausgelöst werden, gefragt werde.

Meoli und Piper präsentierten Formen des gendered place making am Beispiel der ‚Berlin-Filme‘ „Oh Boy“ und „Victoria“. Nicht die Inszenierung eindrucksvoller Stadtansichten oder stadtsignifikanter Wahrzeichen seien in diesen Filmen kennzeichnend, sondern Plätze und Räume alternativer Lebensentwürfe fernab des touristischen Berlins. Auf diese Weise würde beinahe stellvertretend eine andere Konstruktion von Berlin vorgenommen. Ausgehend von einer filmhistorischen Einordnung des Berlin-Films, von methodisch-analytischen Überlegungen zum Verhältnis von Stadt und Film sowie von Ausführungen zur geschlechtsspezifischen Konnotation von Stadtrepräsentationen schlugen die Referent/innen eine genderperspektivische Analyse vor. In dieser wurde die Reaktivierung und gleichzeitige Dekonstruktion der männlich kodierten Figur des großstädtischen Flaneurs in „Oh Boy“ ebenso herausgestellt wie der Charakter eines postmodernen Märchens, das Liebesstory, Sehnsüchte und Träume im als klassischer Großstadt-Dschungel inszenierten Berlin verbindet.

Die auf dem Workshop gehaltenen Vorträge demonstrierten die Pluralität der disziplinären Methoden sowie Forschungsgegenstände einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Großstadtforschung. Die einzelnen Beiträge haben sehr unterschiedliche Formen von „Großstadt“ ihren Untersuchungen zugrunde gelegt, so dass in vergleichender Perspektive die Frage aufkam, was denn die verschiedenen Fallbeispiele verbindet; zugleich wurde eine ausdifferenzierte Bestimmung des Begriffs der „Großstadt“, die sich von anderen Formen der urbanen Agglomeration unterscheidet (Global Cities, Provinzstädte, Städte, Metropolstädte), angeregt. Als weiteres Desiderat wurde die Perspektive erörtert, die verschiedenen „Kulturen des Urbanen“ aus interdisziplinärer Perspektive anhand von thematisch enger gefassten Gegenstandsbereichen zu untersuchen. Ausgehend davon würden die Stärke der einzelwissenschaftlichen Untersuchungen und ihr möglicher Beitrag für eine disziplinenübergreifende Forschungsanstrengung deutlicher werden.

Konferenzübersicht:

Patrick Eser / Angela Schrott (Kassel): Einführung

Jan-Henrik Witthaus (Kassel): Soziale Mobilität und urbaner Raum in „Amores perros“ von A. González Iñárritu

Peter Seibert (Kassel): Der „trügerische Eindruck von der Bewohnbarkeit der großen Städte“ (Brecht). Die Stadt im Film am Beispiel von Wim Wenders‘ „Lisbon Story“

Karsten Gäbler (Jena): Praktiken urbanen Geographie-Machens

Anne Huffschmid (Berlin): Raumlektüren: zum Lesen von Orten, Bildern und Körpern im städtischen Feld

Elettra Griesi (Kassel): Re-ordering space: Können ideologisch produzierte Räume menschengerecht werden

Wiebke Reinert (Kassel): Die „unvernünftigen Tiere“ der Stadtgesellschaft. Repräsentationen der Arbeiterklasse zwischen Animalität und Zivilisation in der Stadtgeschichte des 20. Jahrhundert

Alf Monjour (Duisburg-Essen): Fingierte Oralität und “linguistic landscape”. Linguistische Perspektiven auf die spanische Großstadt

Martina Schrader-Kniffki (Mainz): Soziolinguistische Methoden der Stadtforschung: Kontextualisierte Analyseansätze der visuellen Darstellung von Sprache in urbanen Räumen Hispanoamerikas

Felix Tacke (Bonn): Urbane Sprachkonflikte. Sprachliche Aneignung und Verteidigung des öffentlichen Raums

Rolf Kailuweit (Freiburg): Placemaking – Minderheitensprachen und Linguistic Landscapes in Frankreich

Alfonso Meoli (Kassel) & Jana Piper (Dortmund): Filmischer Stadtraum und Geschlecht bei „Oh Boy“ und „Victoria“

Anmerkungen:
1 Helmut Berking (Hrsg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt am Main 2006.
2 Helmut Berking / Martina Löw (Hrsg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege der Stadtforschung, Frankfurt am Main 2008.
3Vgl. Jan Kemper / Anne Vogelpohl, Zur Konzeption kritischer Stadtforschung. Ansätze jenseits einer Eigenlogik der Städte, in sub/urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 1 (2013), 1, S. 7–30, <http://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/article/view/2/69> (02.11.2016).
4 Rolf Lindner, Textur, imaginaire, Habitus – Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung“, in: Helmut Berking / Martina (Hrsg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege der Stadtforschung. Frankfurt am Main 2008, S. 83–94.
5 Anne Huffschmid (Hrsg.) Stadtforschung aus Lateinamerika: neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios, Bielefeld 2013.